Eine neuzeitliche Stereokamera für Kinofilm Von Reg.-Rat Dr.-Ing. Lüscher, Berlin 1933
Es ist eine bedauerliche Tatsache, daß in einer Zeit, in der auf dem Gebiete des Kamerabaues
außergewöhnliche Fortschritte und Vervollkommnungen erzielt worden sind, seit mehr als einem Jahrzehnt keine einzige neue Stereokamera auf dem Photomarkt erschienen ist. Um so froher muß uns Stereoskopiker die Nachricht stimmen, daß
auf dem Gabentisch der Photoindustrie endlich einmal auch ein neues Stereomodell sich vorfindet. Die durch ihre präzisionsmechanischen Instrumente rühmlichst bekannte
Schweizer Firma Kern & Cie., Aarau, hat das so erfolgreiche Leicaprinzip in die Stereoskopie übertragen und einen äußerst präzis gebauten und sinnreich durchkonstruierten kleinen Stereoapparat die “Kern SS” (siehe Abbildung) herausgebracht, bei dem Bilder im
Teilbildformat 20 x 20 mm auf einfachem perforiertem Kino bzw. Leicafilm aufgenommen werden. Der konstruktive Aufbau ist aus der Abbildung ersichtlich. Der
Objektivabstand beträgt 64 mm, und die Aufnahmen erfolgen in verschränkter Weise derart, daß zwischen zwei
zugehörigen Teilbildern stets zwei andere zu einem vorhergehenden bzw. Folgebild passende Teilbilder gelagert sind.
Durch den Filmtransport um je zwei Teilbildbreiten lassen sich auf diese Weise auf eine Leicafilmrolle 30
Stereoaufnahmen unterbringen. Als Objektive sind zwei „Kernon"-Anastigmate von der Lichtstärke 1 : 3,5 und einer
Brennweite von 35 mm eingebaut. Die große Tiefenschärfe dieser kurzbrennweitigen Optik gestattet es, auf eine
besondere Naheinstellung zu verzichten. Schon mit voller Öffnung 1 : 3,5 reicht der Schärfenbereich von 4 m bis
Unendlich und rückt bei Blende 6,3 bereits auf 2 m heran. Die Handhabung der Kamera ist. damit äußerst einfach, da
jedes Messen oder Abschätzen der Entfernungen und dementsprechende Einstellung der Objektive in Wegfall kommt.
Nur für ausgesprochene Nahaufnahmen unter 1 m Abstand können Vorsatzlinsen aufgesteckt werden. Als Verschluß
ist ein Schieberverschluß eingebaut, der Zeitaufnahmen beliebiger Dauer und Momentaufnahmen von 1/2. bis 1/300
Sekunde erlaubt. Filmtransport und Verschlußspannung sind miteinander gekuppelt, wodurch Doppelbelichtungen ausgeschlossen sind
Ein sehr klar zeichnender Sucher, ähnlich dem bekannten Leica-Sucher, gestattet eine genaue und rasche Erfassung des Bildfeldes.
Für die Betrachtung werden die negativen Bildstreifen in einem besonderen Kopierapparat im Kontaktdruck auf Diapositivfilm kopiert und die so erhaltene Filmdiarolle in ein besonders dazu gebautes Betrachtungsgerät eingelegt. In diesem (siehe Abbildung) dargestellten Betrachter sind
zwei bildumkehrende astronomische Fernrohre eingebaut, die eine dem natürlichen freien Sehen entsprechende Vergrößerung ergeben. Legt man darin die Filmstreifen auf
dem Kopf stehend ein, so erscheint jedem Auge das ihm zugehörige Bild in seiner richtigen Stellung. Das sonst in der Stereoskopie notwendige Vertauschen der Teilbilder
wird so auf einfachste Weise vermieden. Man nimmt auf und kopiert wie bei der gewöhnlichen Photographie, und alles andere besorgt der Betrachter. Trotz des kleinen
Originalformates von 20 x 20 mm ist die Wiedergabe in dem Betrachter so überaus klar und kornlos, daß kaum ein Unterschied gegenüber Diapositiven vom
Stereonormalformat 6 x 13 festzustellen ist. Wenn auch der Gedanke einer Stereokamera mit verschränkten
Aufnahmen und Kinofilm an sich nicht neu ist (vgl. die verschiedenen Abhandlungen, die im „Stereoskopiker" in den
letzten zwei Jahren über „die Volksstereokamera" erschienen sind, sowie die von Richard in Paris seit Jahren gebaute
„Homeos-Stereokamera"), so ist es doch sehr anzuerkennen, daß eine Firma diesen Gedanken mit den Mitteln
neuzeitlicher Kameratechnik verwirklicht hat und damit auch für den Stereofreund eine Art „Leica" geschaffen hat. Wir
möchten jedenfalls diesem Modell eine ähnlich große Verbreitung in absehbarer Zeit wünschen und damit einen entsprechenden Zuwachs an Freunden dieses schönen Zweiges der Liebhaberphotographie.
Allerdings dürften bei der derzeitigen ungünstigen allgemeinen Wirtschaftslage die für deutsche Verhältnisse noch sehr
hohen Preise von 480 Schweizer Franken für die Aufnahmekamera und 180 Schweizer Franken für den Betrachter diesem Ziel noch recht hinderlich im Wege stehen.
Eine Anregung zur Vervollkommnung der Kern'schen Stereoausrüstung mag hier noch kurz gegeben werden, nämlich die, auch ein Stereokopiergerät für künstliches Licht nach Art der Kleinbildvergrößerungsgeräte herauszubringen, mit
dem von dem Negativfilm auch unmittelbar durch optische Vergrößerung und Bildumkehrung Papierkopien im Normalformat 6 x 13 gewonnen werden können, die sich zur Betrachtung in den üblichen billigen
Taschenstereoskopen eignen. Damit brauchte man dann nicht mehr zur Vorführung den doch zum Gebrauch außer Haus etwas umfangreichen Betrachter mitzuführen und könnte auch seine Bilder anderen Kreisen, denen der
Spezialbetrachter fehlt, zugute kommen lassen. Es wäre schließlich sehr zu begrüßen, wenn nun auch die so
hochentwickelte und leistungsfähige deutsche Photoindustrie dem mutigen Vorgehen ihrer Schweizer Schwester bald folgen würde.
Aus DER STEREOSKOPIKER, Nr. 11 vom 15. Nov. 1932. Organ der DEUTSCHEN GESELLSCHAFT FÜR STEREOSKOPIE e.V. (© Text überarbeitet von D. Schulte) |